Frage: Sie haben ja bereits das Thema Friedensgebete angesprochen. Welche konkreten Angebote gab es an Ihrer Schule? Und wie wurden sie angenommen?
Kretschmer-Stöhr: Direkt am Montag nach den Ferien, am Rosenmontag, gab es ein Friedensgebet bei uns, wo auch die bereits erwähnte ukrainische Schülerin gesprochen hat. Daran haben von unseren rund 700 Schülerinnen und Schülern etwa 150 teilgenommen. Es war eine ganz schlichte Andacht, etwa 20 Minuten lang. Das habe ich auch bewusst nur „Friedensgebet“ genannt. Seitdem treffen wir uns etwa alle zwei Wochen zum gemeinsamen Gebet mit allen, die möchten. Inzwischen ist die Zahl der Teilnehmenden eher abnehmend, aber ich merke, dass es für manche ein gutes Ventil ist. Also setzen wir die Gebete fort.
"Wenn jemand zu mir als Schulseelsorger kommt, ist Gott nicht sofort das erste Thema"
Frage: Schulseelsorger sind ja nicht einfach nur zusätzliche Vertrauenslehrer, sondern vertreten ja auch eine spirituelle Dimension. Welche Rolle spielt diese, wenn Sie über den Krieg in der Ukraine sprechen?
Kretschmer-Stöhr: Wenn jemand zu mir als Schulseelsorger kommt, ist Gott nicht sofort das erste Thema, sondern eher die Erschütterung in dieser Welt. Bis vor kurzem war es Corona, jetzt ist es der Krieg. Es kommen Fragen wie: Was passiert in dieser Welt? Was ist noch sicher? Wie stark muss ich mich persönlich mit dem Leid in der Welt beschäftigen? Die Erfahrung, dass die eigene Sicherheit in Frage gestellt wird, hat ja im weitesten Sinne auch etwas mit Spiritualität zu tun. Im unterrichtlichen Kontext stehen Fragen nach Gut und Böse im Mittelpunkt. Was ist eigentlich das Böse, das einen Menschen dazu veranlasst, einen Krieg zu beginnen? Welche Macht hat Gott? Die Schülerinnen und Schüler beschäftigen vor allem ethische Fragen: Ist es ethisch verantwortlich, direkt in den Krieg einzugreifen, um Leid zu verhindern?
Es heißt ja, Gott ist der Herr der Geschichte. Aber was bedeutet das eigentlich in Zeiten, die schwer sind? Da lohnt sich ein Blick in die Bibel. Die ist nämlich voll von schlechten Zeiten für die Menschen. Das finde ich ein Stück weit tröstlich. Wir leben in sehr „biblischen Zeiten“. Viele Generationen vor uns waren schon erschüttert von dem, was in dieser Welt passiert. Ihre Fragen und Antworten sind Gott bekannt. Dieser Gedanke kann Angst nehmen.
Frage: Was hilft Beten angesichts von Kriegen und anderen Katastrophen?
Kretschmer-Stöhr: Zum einen ist das Gebet ein Raum für die eigene Ohnmacht und Erschlagenheit, in dem man sich nicht allein fühlt. Wir dürfen Gott unsere Bedrückung, Wut und Hilflosigkeit hinhalten, ohne schon überlegen zu müssen, was wir tun können. Ich darf als Mensch in meinem Gefühlswirrwarr sein und muss nicht direkt alles verstehen und etwas Schlaues sagen.
Das zweite ist: Ich muss nicht wissen, welche Rolle Gott bei den Geschehnissen in der Welt spielt. Aber ich darf ihm mein Leid schildern und Hilfe erbitten. Ich darf meine Hoffnung auf ihn setzen, ohne ihm vorzuschreiben, was er tun soll.
Und drittens: Ich erlebe ein Gefühl von Gemeinschaft in meiner eigenen Zerrissenheit. Das ist eine Kraftquelle, um danach wieder aktiv zu sein und meinen Beitrag leisten zu können. Dieses Angebot, trotz allem Antrieb, aller Motivation, in Gottvertrauen eine Pause zu machen und einen Schritt zurückzutreten – das ist meiner Meinung nach etwas typisch Christliches. Das ist der Kern der Reich-Gottes-Theologie: Tu, was du kannst. Aber denk ja nicht, dass du alles allein schaffst.
"Darf ich Spaß haben, wenn in dieser Welt so viel Leid und Chaos ist"
Frage: In einigen Regionen ist der Ausbruch des Krieges in der Ukraine mit dem Beginn von Karneval bzw. Fasching zusammengefallen. Wie geht man mit dieser Gleichzeitigkeit von Leid und schönen Festen in der Schule um? Anders gefragt: Darf man feiern, wenn andere leiden?
Kretschmer-Stöhr: Darin steckt ja die klassische Frage: Darf ich Spaß haben, wenn in dieser Welt so viel Leid und Chaos ist? Ich habe ganz klar kommuniziert, dass die Schülerinnen und Schüler selbstverständlich Orte haben dürfen, in denen sich freuen und lachen. In denen sie nicht das Gefühl haben, die Probleme der Welt lösen zu müssen. Dieser klare Zuspruch ist gerade für Kinder ganz wichtig. Auf der anderen Seite müssen wir im Fasching aber auch Grenzen ziehen. Ein Junge hatte zum Beispiel eine Spielzeugpistole dabei. Das geht natürlich nicht.
Diese Gegensätzlichkeit von Leid und Freude ist ein Spezifikum christlicher Spiritualität. Wir feiern jeden Gottesdienst mit einem Lob Gottes – trotz allen Leids und trotz dem Bekenntnis unserer Fehler. Ich versuche immer wieder Orte zum Auftanken an der Schule zu schaffen. Denn gerade sind die Akkus vieler Menschen durch die Corona-Pandemie einfach leer. Da ist es wichtig, sich trotz allem auch mal etwas zu gönnen.
Das Interview führte Maike Müller
* Hinweis: Das Interview wurde bereits im April 2022 geführt und erstmals am 12. April 2022 auf katholische-schulen.de veröffentlicht.