Frage: Sie nutzen in Ihrer Arbeit den Begriff der „religiösen Bildung für nachhaltige Entwicklung“. Welche Perspektiven kann das Christentum der „allgemeinen“ Bildung für nachhaltige Entwicklung hinzufügen?
Claudia Gärtner: Ich würde mit Johann Baptist Metz anfangen, der die beiden Begriffe von Mystik und Politik als Grundcharakteristika von Religion und Christentum ins Gespräch gebracht hat. Diese zeigt sehr schön zwei Pole auf, die auch religiöse Bildung betonen kann. Einerseits geht es in religiöser Bildung darum, Heranwachsende – und auch Erwachsene in der Erwachsenenbildung – zu befähigen, spirituelle, religiöse Ressourcen und eine Gemeinschaftsform im Umgang mit Krisen und Herausforderungen für sich zu erschließen, wenn sie es möchten.
Andererseits ist dem Christentum immer auch eine politische Komponente inne. Also das Christentum auch als einen Ort zu verstehen, wo durch religiöse Tradition, durch Lehre, durch die Botschaft des Reiches Gottes, kritische Impulse in die Gesellschaft hineingespielt werden können. Eine Perspektive, die zeigt, dass eine andere Form von Leben möglich ist, dass auch eine andere Form von Gesellschaft möglich ist. Diese Spannung von Mystik und Politik ist etwas, das wir in dieser Form in einer anderen Fächerkultur mit Blick auf die Schule so nicht finden. In der politischen Bildung besteht immer die Frage, wie neutral diese eigentlich sein muss. Da kann religiöse Bildung als ein konfessionelles und bekenntnisorientiertes Fach eine Tradition, Inhalte, Werte und eine ethische Positionierung anbieten, die andere Fächer so nicht bieten können.
Frage: Religiöse Bildung kann die Krisen dieser Welt nicht lösen. Wie kann religiöse Bildung aber dabei helfen mit den multiplen Krisen unserer Zeit – also Klima, Corona, Krieg – umzugehen?
Claudia Gärtner: Das knüpft an das an, was ich gerade gesagt habe. Für mich haben Religionen zum einen ein spirituelles Potenzial, wo ich auftanken kann, wo ich mich vergewissern kann, wo ich Kraft schöpfen kann, entweder in der religiösen Gemeinschaft oder in meiner Beziehung zu Gott, zu einer Transzendenz. Denn Religion bietet die Vision, dass diese Welt nicht alles ist und dass ein anderes Leben mit einer weniger kompetitiven und materialistischen Welt möglich ist.
Die zweite Ressource ist die Vergemeinschaftung. Wir wissen aus der Umweltpsychologie, dass es einen riesigen Gap gibt zwischen dem, was ein Individuum denkt und weiß und dem, wie er oder sie dann tatsächlich handelt. Verändertes Handeln entsteht in Gemeinschaftsformen, indem ich mich vergewissere, dass andere ähnlich denken und tun. Schulgemeinschaften und religiösen Gemeinschaften liegt da ein hohes Potenzial inne, weil ich dort mit Menschen zusammenkomme, die eine ähnliche Werteorientierung haben oder ein ähnliches Verständnis von Leben. Das kann das eigene Handeln verändern.
Und nicht zuletzt haben Kirchen immer noch ein weltweites Netzwerk sowie enorme materielle Ressourcen zur Verfügung. Das fängt an beim Gemeindesaal, indem man sich treffen kann und reicht bis zum Internetportal, worüber Dinge kommuniziert werden. Das sind Strukturen, die in vielfältiger Weise genutzt werden können: Zur Vergemeinschaftung, zum Austausch von Ideen, zum gemeinsamen Einsatz für eine transformierte Gesellschaft.
Frage: Ist das im schulischen Religionsunterricht bereits angekommen oder ist da noch Luft nach oben?
Claudia Gärtner: Wir haben im Religionsunterricht eine lange Tradition, um im Rahmen von Schöpfungstheologie über Fragen von Umwelt und Klima nachzudenken. Da gibt es eine Menge an Wissen und Erfahrung, woran eine religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung wunderbar anknüpfen kann. In den Materialien, die in den letzten Jahrzehnten zu diesem Thema veröffentlicht wurden, ist allerdings eine Reduktion und Fokussierung auf lokales und individuelles Handeln zu beobachten. Ganz klischeehaft werden Schulklassen dann aufgefordert, auf dem Schulhof Müll zu sammeln und Wasser zu sparen. Das sind gute und wichtige Impulse, die aber den riesigen Anforderungen durch die Klimakrise nicht gerecht werden. Statt die Verantwortung allein dem einzelnen Individuum zuzuschreiben, müssen wir auch die Strukturen in der Gesellschaft ändern. Denn der oder die einzelne wird diese Klimakrise nicht verändern können. Dafür braucht es einen gesellschaftlichen Umbau. Und da sehe ich tatsächlich noch Luft nach oben insofern, dass die religiöse Bildung stärker auf die Visionen vom Reich Gottes, von Gesellschaftsordnung in der jüdisch-christlichen Tradition schaut. Da haben wir eine ganz andere Form von Gemeinschafts- und Gesellschaftsvorstellungen als wir sie derzeit in Deutschland und im globalen Norden leben. Das wäre ein Impuls für eine stärker politisch ausgerichtete religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung als wir diese zurzeit sehen.
© Thomas - stock.adobe.com
Frage: Welche Traditionen gibt es im Christentum, die beim Umgang mit Krisen helfen können? Und spielte nachhaltiges Leben in der Bibel eine Rolle?
Claudia Gärtner: Da gibt es viele. Ich will mich auf zwei fokussieren. Zum einen hat mich eine Sache sehr stark beeindruckt: Es gibt ein Plakat, das auf Fridays for Future-Demonstrationen häufig zu sehen ist, mit der Aufschrift: „We are unstoppable. Another world is possible.“ Diese Jugendlichen suchen nach einer anderen Weltordnung. Und dieser Satz könnte genauso gut über der jüdisch-christlichen Botschaft stehen. Ich bin zutiefst davon geprägt, dass wir eine Vorstellung von Transzendenz, von Alterität haben, dass das hier auf Erden nicht alles ist, sondern, dass wir auf ein Reich Gottes hinstreben, in dem ein anderes Leben möglich ist. Ich glaube, dass ein Hoffnungspotenzial darin liegt, dass wir uns nicht mit einer Alternativlosigkeit zufriedengeben. Das ist eine enorme Ressource: Die Vorstellung, dass es auch anders geht. Und dass wir nicht auf das reduziert sind, was hier und jetzt ist.
Das zweite ist eine Fokussierung auf das, was man im Transformationsdiskurs Suffizienz nennt. Also genügsam zu werden und sich die Frage zu stellen, was es eigentlich für ein gutes Leben braucht. Das kam auch in der Corona-Krise auf. In der Bibel und der jüdisch-christlichen Botschaft haben wir eine breite Tradition zum freiwilligen Verzicht, zu einer freiwilligen Armut. Total radikal wie bei Franziskus, aber auch darin, dass Menschen sich auf das Notwendige fokussieren, um frei für die wirklich wichtigen Dinge zu sein. In der religiösen Tradition würde das bedeuten, frei zu sein für Gott. Aber das können wir auch auf das materielle Leben auf der Erde übertragen. Verzicht, der oft so negativ geframed ist – kann dann positiv gedeutet werden: Verzicht als eine Form von Freiheit. Das zieht sich durch die jüdisch-christliche Tradition.