"Strukturhilfe geben und Freiräume zulassen"

  • Bildung um des Menschen willen | 06.01.2021

Die Auswirkungen der Corona-Krise stellen Familien mit schulpflichtigen Kindern vor große Herausforderungen. Welche Probleme belasten die Schülerinnen und Schüler dabei? Wie kann der Alltag in der Isolation gelingen? Über diese und weitere Fragen haben wir mit Schulpsychologin Marie-Claire Rossius vom Franziskanergymnasium Kreuzburg in Großkrotzenburg gesprochen. Im Interview gibt sie Einblicke in die aktuelle Situation und konkrete Tipps für Schüler, Eltern und Lehrer.

 

Frage: Geschlossene Schulen, weitreichende Einschränkungen der sozialen Kontakte, viel Zeit zu Hause – der Alltag steht gerade Kopf. Was macht die Corona-Krise mental mit uns?

Marie-Claire Rossius: Das ist für uns alle eine neue Situation. Gerade das Kontaktverbot ist ein großer Eingriff in die Selbstständigkeit und Selbstbestimmung eines Menschen. In den Medien werden wir mit „Stay-at-Home“-Messages konfrontiert, ohne dass uns jemand sagen kann, wann das alles endet. Das ist für Kinder besonders schwer zu verstehen. Außerdem neigen wir Menschen dazu, eng zusammenzurücken, uns Nähe zu schenken, wenn wir Angst haben. Und gerade das ist im Moment untersagt. Zusätzlich können in den Familien neue Herausforderungen entstehen. Wir müssen miteinander agieren und haben wenige Möglichkeiten, uns aus dem Weg zu gehen. Das kann aber auch Chancen eröffnen. Wir können Rituale wieder neu entdecken, wie zum Beispiel gemeinsam zu Abend zu essen.

Frage: Kinder und Jugendliche nehmen die aktuelle Situation ja noch einmal anders wahr als Erwachsene. Vor welchen Herausforderungen stehen Schülerinnen und Schüler gerade?

Rossius: Zum einen beschäftigen die Kinder und Jugendlichen Fragen, die durch die Corona-Krise bedingt sind. Wie ist es gesundheitlich? Was ist mit meinen Großeltern? Inwieweit bin ich in der Lage, mir meinen Schulstoff eigenständig anzueignen? Zum anderen sind da aber auch Schwierigkeiten, die vorher schon da waren, die durch die aktuelle Situation eventuell noch verstärkt werden, oder zumindest nicht einfach verschwinden. Diese Schülerinnen und Schüler fühlen sich nun schnell auf sich allein gestellt. Das versuchen wir natürlich seitens der Schule abzupuffern, was auch gut gelingt. Und dann sind da auch noch Befürchtungen, wie es nach der Corona-Krise weitergeht. Habe ich genug gelernt? Vor allem wenn man sich nicht, wie sonst im normalen Schulalltag, immer wieder rückversichern kann. Und natürlich sind Themen wie Motivation, Selbstdisziplin, Selbstorganisation derzeit essenzieller denn je.

Frage: Stehen Sie trotz der Schulschließung weiterhin mit den Schülerinnen und Schülern des Franziskanergymnasiums Kreuzburg in Kontakt?

Rossius: Kontakte finden weiterhin statt - webbasiert über Video oder Telefonie. Ich habe auch einige Schülerinnen und Schüler, die sich ein bisschen anonymisierter per Email an mich wenden. Insgesamt stelle ich fest, dass die Corona-Krise an sich gar nicht unbedingt das präsente Problem ist, sondern eher Dinge, die daraus entstehen. Zum Beispiel Fragen rund um Struktur und Organisation der Hausaufgaben. Oder etwa Versagensängste. Die nehmen jetzt eine ganz andere Dimension ein. Mit vielen Schülerinnen und Schülern, die sich melden, stand ich auch vorher schon in Kontakt. Wir haben jetzt nur die Plattform gewechselt.

Frage: Haben Sie ein paar konkrete Tipps, wie der Alltag in der Isolation gelingen kann?

Rossius: Generell ist es wichtig, eine Tagesstruktur und einen Schlafrhythmus beizubehalten. Das Wissen, was man sich über den Tag angeeignet hat, wird im Schlaf verarbeitet und abgespeichert. Das bedeutet, wenn ich jetzt nicht mehr richtig schlafe, kann ich am Tag zig Stunden lernen, es hat aber keinen Effekt, weil ich es nicht verarbeiten kann. Das kann Frustration hervorrufen. Außerdem ist es gut, sich mit den Eltern über die neue Situation auszutauschen. Sich gemeinsam zu überlegen, wie man den Tag in dieser neuen Situation gestaltet. Auch mal zu schauen, ob man vielleicht an einem anderen Zeitpunkt besser lernen kann, als morgens um zehn Uhr. Das kann man ruhig einfach mal ausprobieren und schauen, wie es funktioniert. Gegebenenfalls korrigiert man es halt wieder zurück. Wenn Kinder und Jugendliche auf Schwierigkeiten beim Lernen stoßen, kann es zudem hilfreich sein, webbasierte Lerngruppen zu bilden und sich auszutauschen.

Abseits des Lernens kann man Hobbies wiederaufleben lassen. Einige meiner Schülerinnen und Schüler fotografieren oder zeichnen gern. Auf unserer Schulhomepage haben wir einige Tipps dazu zusammengestellt. Dort gibt es auch Informationen über Anlaufstellen, wenn Hilfe benötigt wird.

 

Schulpsychologin Marie-Claire Rossius - © privat

 

Frage: Stichwort Homeschooling. Viele Eltern haben das Gefühl, sie müssten jetzt die Rolle der Lehrkraft einnehmen. Wird das erwartet?

Rossius: Lehrkräfte haben ja eine pädagogische und auch methodische Ausbildung. Deshalb sollte jetzt nicht die Erwartungshaltung entstehen, dass Eltern diese Rolle nun beim Lernen zu Hause übernehmen müssen. Das ist ja gar nicht umzusetzen und auch nicht das Anforderungsprofil. Vielmehr sollten Eltern weitestgehend versuchen, ihre Kinder zu unterstützen, damit diese nicht das Gefühl haben, sie müssten jetzt ganz allein tausend Dinge gleichzeitig erledigen. Es geht eher darum, Kindern und Jugendlichen Strukturhilfe zu geben, ihnen aber auch Freiräume zu lassen. Denn, im regulären Schulalltag hat es ja auch geklappt. Eltern haben also eher eine gewisse Überwachungsfunktion, was die Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler sowie den angemessenen Umfang der Aufgaben angeht. Da ist es auch immer gut, das an die Schule rückzumelden.

Außerdem finde ich es wichtig, dass in den Familien altersgerecht über die verschiedenen Aspekte der Corona-Krise gesprochen wird. Neben der Aufklärung über die Krankheit, die das Virus auslöst, kann das auch heißen, über die Herausforderungen zu sprechen, mit denen die Eltern gerade konfrontiert sind. Man darf auch als Elternteil mal Schwäche zeigen.

Frage: Was ist jetzt wichtiger: Lernstoff durchziehen oder emotionale Unterstützung bieten?

Rossius: Das eine kann ohne das andere gar nicht funktionieren. Wenn ich emotional nicht gefestigt bin, kann ich keinen Lernstoff organisieren und aufnehmen. Die psychische Gesundheit ist sehr wichtig für die Schüler - und für die Eltern. Deren Alltag befindet sich ja im Moment auch im Ausnahmezustand. Sie müssen sich dual um ihre Kinder, eventuell um weitere Verwandte und um ihren Job kümmern. Da kommt sehr viel zusammen.

Frage: Bekommen Sie Rückmeldungen von den Lehrerinnen und Lehrern ihrer Schule? Wie nehmen sie die Situation wahr?

Rossius: Die Umstellung des Unterrichts auf webbasiertes und eigenständiges Lernen in so kurzer Zeit war für die Lehrkräfte und die Schulleitung eine enorme Herausforderung. Die Kolleginnen und Kollegen haben natürlich ein gewisses Material und sind vorbereitet, aber eben auf die gängigen Prinzipien in den Klassenzimmern, also Frontalunterricht oder Gruppenarbeit. Nebenbei haben ja auch viele noch eine eigene Familie, um die sie sich kümmern müssen.

Frage: Wie können Lehrkräfte den Schülerinnen und Schülern zu Hause Lust aufs Lernen machen?

Rossius: Es ist jetzt sehr wichtig, die Motivation der Kinder und Jugendlichen aufrecht und die Frustration möglichst niedrig zu halten. Dazu gehört auch, auf das einzugehen, was von den Schülerinnen und Schülern zurückgemeldet wird. Wir haben im Zuge der aktuellen Situation eine Umfrage unter unseren Schülerinnen und Schülern gestartet. Wir wollten wissen, wie es ihnen mit der Umstellung geht, wie sie mit dem Umfang der Aufgaben und den neuen digitalen Tools zurechtkommen. Dabei ist unter anderem herausgekommen, dass sich viele einen Wochenplan wünschen, damit sie einen Überblick über die Aufgaben haben und sich diese selbstständig einteilen können. Das ist typisch für uns Menschen. Wir sehnen uns nach Vorhersehbarkeit. Außerdem ist es jetzt eine Chance, Raum zu geben, Dinge auszuprobieren. Es kann auch immer ein Anreiz sein, in Lerngruppen zu arbeiten oder soziale Medien zu nutzen. Die Frage, wie lange Kinder den PC oder das Smartphone täglich nutzen dürfen, war ja bisher immer ein kritischer Punkt. Das wird nun etwas herausgefordert. Aber es ist auch ein guter Zeitpunkt, neue Möglichkeiten und Wege zu entdecken.

Frage: Wie können Lehrerinnen und Lehrer auf die sozialen Ungleichheiten innerhalb der Schülerschaft reagieren? Es steht ja zum Beispiel nicht jedem Kind zu Hause ein eigener Computer zur Verfügung.

Rossius: Der Schule sind die sozialen Ungleichheiten natürlich sehr bewusst und wir versuchen, Lösungen zu finden. Zum Beispiel, indem wir weniger Arbeitsblätter nutzen, die ausgedruckt werden müssen. Die Kolleginnen und Kollegen beziehen sich bei ihren Aufgabenstellungen auf die Bücher, die im regulären Unterricht auch genutzt werden, also sowieso vorhanden sind.  Bei der bereits angesprochenen Umfrage unserer Schule wollten wir auch wissen, welche Geräte unseren Schülerinnen und Schülern zur Verfügung stehen und ob sie sich diese mit anderen Personen teilen müssen. Insgesamt 65 Prozent haben angegeben, dass sie ein Gerät für sich allein nutzen können. Außerdem muss nicht grundsätzlich mit einem eigenen Computer oder Tablet gearbeitet werden. Und für Rückfragen stehen wir auch per Telefon zur Verfügung.

 

Das Interview führte Maike Müller

*Dieses Interview wurde bereits im April 2020 geführt und auf katholische-schulen.de veröffentlicht. Hier erscheint es nun in aktualisierter Form.

 

 

 

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