Emma steht auf dem Schulhof. An der Hand ihrer Mama drückt eine übergroße bunte Schultüte an sich. Das Einhorn musste es sein, als Motiv. Das ist ein so schönes, mutiges und starkes Tier, weiß Emma. Gleich wird sie ihre erste Unterrichtsstunde haben. Einerseits ist sie froh, dass es endlich los geht. Doch irgendwie fühlt es sich auch komisch an: neu und fremd. Ein Kloß steckt ihr im Hals. Sie schluckt die Tränen runter und lauscht der Begrüßungsrede der Schuldirektorin.
Der erste Schultag
Eine Situation, die vielen Eltern bekannt ist – sei es aus der Erfahrung mit den eigenen Kindern oder schlicht und einfach deshalb, weil sie alle einmal eingeschult worden sind. Was die Wenigsten wissen, ist die Tatsache, dass Kinder bis zu dem Moment, in dem sie mit schlotternden Knien oder mit erwartungsvoller Vorfreude auf dem Schulhof auf ihre Einschulung warten, schon mehrmals ähnliche Veränderungen im Leben durchgemacht haben.
Pädagoginnen und Pädagogen bezeichnen diese Art der Veränderung im Leben eines Kindes als Übergang oder Transition. „Schon beim Eintritt in die Familie wird das Kind geprägt von den Erfahrungen, die es dort macht“, weiß Dr. Andy Schieler, Institutsreferent des Instituts für Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kindheit |Rheinland-Pfalz (IBEB) am Fachbereich Sozialwissenschaften der Hochschule Koblenz. Er leitet das DebÜ-Modellprojekt zum Übergang von der Kita in die Schule in Rheinland-Pfalz.
Kinder erleben viele kleine Umbrüche
„Und Übergänge gibt es in den ersten sechs Lebensjahren tatsächlich genug“, sagt Schieler. Der erste Kita-Besuch bedeutet einschneidende Veränderung im Leben des Kleinkindes. Hinzu kommen alltägliche kleinere Übergänge, sogenannte Mikrotransitionen. „Auch das tägliche Abgeben und Abholen in der Kita zählt zu den Mikrotransitionen“, sagt Schieler. Seit 2013 haben Eltern von Kindern unter drei Jahren (U3) das Recht auf einen Betreuungsplatz für ihr Kind. Mit dem Erreichen des dritten Lebensjahres wechselt das Kind in die Gruppe der über Dreijährigen (Ü3) – schon wieder ein Übergang. Außerdem nehmen viele Kitas ihre Kinder im letzten Kitajahr vor der Einschulung in die „Vorschulgruppe“ auf – auch das ist ein Umbruch im Kinderleben.
Innerhalb der Kita gestalten Erzieherinnen und Erzieher den Neuanfang aktiv mit. Beim Übergang von U3 nach Ü3 finden in manchen Kindergärten sogenannte Hospitationsstunden statt. Das betroffene Kind bekommt die Möglichkeit, die neue Gruppe zu besuchen und sich in Ruhe umzuschauen. Diese Aktionen und Rituale geben Orientierung bei Veränderungen und gestalten den Übergang sanfter. So können Kinder beispielsweise ihr bekanntes Kuscheltier mit in die neue Gruppe nehmen, es gibt einen festgelegten Umzugstag, an dem der Umzug in die neue Gruppe organisiert wird. Dann packen die Erzieherinnen und Erzieher gemeinsam mit den betroffenen Kindern die persönlichen Sachen und Gegenstände ein und gehen in die neue Gruppe.
Schulstart ist ein großer Schritt für das Kind
Ein großer auch gesellschaftlich angesiedelter Einschnitt im Leben des Kindes ist zweifellos der Übergang von der Kita zur Grundschule. Das Kind ist schulfähig. „Die Schulfähigkeit des Kindes wird als Prozess verstanden und stellt im Grunde eine Summe von verschiedenen Verhaltensmerkmalen und Leistungseigenschaften dar. Dazu zählen emotionale, soziale, motorische, aber auch kognitive Kompetenzen“, sagt Schieler. Die Kinder wechseln in eine neue Einrichtung mit anderen Tagesabläufen, anderen Ritualen und ganz neuen Ansprechpartner[s1] innen und Ansprechpartner, deren Rollenverständnis sich ebenfalls von dem der bisher gekannten Personen unterscheidet.
„Erst einmal sind die Übergänge sehr individuell, das heißt: jedes Kind empfindet den Übergang anders. Bei Kindern, bei denen beispielsweise eine Sprachbarriere besteht, sind die Übergangskonzepte der Kitas und Grundschulen gefragt, um diesen Besonderheiten gerecht zu werden“, sagt Schieler. Und hier sind dann die Eltern umso mehr gefragt. „Auch Eltern sprechen beim Thema Schule aus eigenen Erfahrungen und haben ihre Bilder im Kopf. Die Frage ist: Wie sieht dieses Bild oder diese Vorstellung von Schule bei den Kindern aus und wie interagiert es mit dem realen Bild. Wenn die Eltern gut oder weniger gut über die Schule gesprochen haben, dann projiziert sich das auf die Kinder. Wenn das Bild von Schule im Kopf der Kinder eine Blackbox ist mit vielen Fragen und Unsicherheiten, dann geht das Kind auch mit diesen Unsicherheiten in die neue Lebensphase. Entscheidend ist, was die Eltern ihren Kindern mitgegeben haben“, sagt Schieler.
Übergänge lassen sich aktiv gestalten
Um Ängsten und Unsicherheiten zu begegnen, kann man im Vorfeld der Einschulung einiges tun. „Es gibt beispielweise das Konzept der Hospitationen. Also, dass die Kinder die Möglichkeit haben, vorher die Räumlichkeiten der Grundschule anzuschauen. Auch gemeinsame Projekte mit Schulkindern lassen das Bild über Grundschule realistischer werden“, sagt Schieler.
Doch was ist jetzt neu an Schielers Forschungsarbeit? „Das Zentrale, das entscheidend Neue, an dem ganzen Projekt ist, dass es einen gemeinsamen Qualitäts- und Entwicklungsprozess von Kitas und Grundschulen anhand des Ansatzes Qualitätsentwicklung im Diskurs gibt. Und ich bin sehr gespannt auf welche Hürden und Ressourcen wir stoßen“, sagt Schieler. Und erstmals sollen auch die Kinder mit einbezogen werden. Dies geschieht in Form von Befragungen. „Wir gehen dann in Kitas und Grundschulen, kommen mit Kindern ins Gespräch und lassen sie über ihre Bilder im Kopf sprechen. So erfahren wir über das Gesagte oder auch das Nicht-Gesagte – das, was zwischen den Zeilen steht – was Kinder brauchen, was Ihnen hilft, um die Übergänge gut bewältigen zu können.“
Ängste entstehen durch alltagspraktische Situationen
Aus der Sicht der Kinder fangen die Ängste und Sorgen bei den praktischen Fragen an: „Für uns erscheint es erst einmal trivial, doch Kinder fragen sich, wo die Toiletten sind und ob sie den Weg zurück in den Klassenraum wiederfinden. Oder sie fragen sich, ob sie wirklich den ganzen Tag sitzen müssen. All das sind für die Kinder alltagspraktische Sorgen. Es ist wichtig, diese Probleme ernst zu nehmen, aufzugreifen und sich ihnen anzunähern.“
Emma weiß schon, wo die Toilette ist. Sie hat die Schule schon am „Tag der offenen Tür“ besucht und sich ausgiebig umgeschaut. Endlich ist es dann so weit: Die Direktorin hat zu Ende gesprochen und ihre neue Klassenlehrerin winkt den Kindern zu. Tapfer geht Emma einen weiteren Schritt in Richtung Selbstständigkeit: Sie schaut zu ihrer Mutter und fängt einen aufmunternden Blick ein. Dann lässt sie Mamas Hand los, drückt das mutige Einhorn fester an sich und folgt den anderen Kindern. Die Klassenlehrerin geht voran und nach und nach verschwinden alle Schulanfänger hinter der Glastür im Schulgebäude.
Von Claudia Klein
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